In den Neunzigern hatte ich mit House nicht so viel am Hut. Das änderte sich ein wenig, als um 1993 aus Großbritannien ein neues Subgenre namens Progressive House zu uns hinüberkam. Bekannt wurde der Begriff um 1992, als Dom Phillips für Mixmag seine Eindrücke dieser neuen Form des House beschrieb: „Progressive House we’ll call it. It’s simple, it’s funky, it’s driving, and it could only be British”. Für neue Hypes waren die Engländer ja bekannt. Die ersten Tracks waren alle heiter angereichert mit Piano-Samples und Tribal-Elementen. Später nahmen sie auch Elemente der Trance- und Techno-Bewegung auf, wurde düsterer und dramaturgischer. Die Tracks bauten sich langsam und treibend auf, steigerten sich mit Flächen und dezent eingesetzten Vocals hin zur Ekstase.
Guerilla Records, Hard Hands und Hooj Choons gehörten zu den Labels, die Progressive House damals gepusht haben. „Gat Decor – Passion (1992), „Herbal Infusion – The Hunter (1992) und „Atlas – Compass Error (1993) sind frühe Beispiele, wo man bereits gut erkennen konnte, wohin die Reise musikalisch gehen sollte. Compass Error ist nebenbei bemerkt einer der drei Tracks, die das Gänsehaut erregende Vocal-Sample „Oh, Mara“ (1988) der bulgarischen Folksängerin Yanka Rupkina reingemischt haben. Dasselbe Sample ist auch bei „Leftfield – Song of Life“ (1992) und „Fluke – Oh Yeah“ (1993) zu hören.
Sasha & Digweed pushen das Genre
Die beiden DJs John Digweed und Sasha brachten 1994 das Mix-Album „Renaissance – The Mix Collection“ heraus, das Progressive House ein weiteres Stück nach vorne brachte. Auf drei CDs tummelten sich jene Stücke, die die beiden DJs im Renaissance-Club in Mansfield aufgelegt hatten. 1994 erschien auch von Underworld der Klassiker „Dark & Long“ (auch bekannt aus dem Film „Trainspotting“). Zu dieser Zeit war Progressive House noch sehr britisch und auf der Insel so etwas wie eine Gegenkultur zu Rave und Happy Hardcore. In den letzten Jahren des alten Jahrtausends wurde es dann ruhiger um Progressive House. Das lag einerseits an neuen Genres wie Bigbeat oder Techstep, aber auch an wieder erstarkten bekannten Styles. Musikalisch gesehen war der Unterschied zwischen Progressive House und Progressive Trance zu jener Zeit nur noch marginal.
Zehn Klassiker, die man gehört haben sollte
- The Chameleon Project – Feel [Guerilla 1992]
- Leftfield – Song of Life (Extended Mix) [Hard Hands 1992]
- Gat Decor – Passion (Naked Mix) [Effective 1992]
- Opal – The Snake [OOR 1993]
- Tenth Chapter – Prologue (1st Addition Mix) [Guerilla 1994]
- Underworld – Dark And Long (Dark Train) [Junior Boy’s Own, 1994]
- Quivver – Saxy Lady (Parks & Wilson Remix) [A&M 1994]
- Ocean Motion – The Original Breath [Urban Sound of Amsterdam 1994]
- Lemon Interrupt – Dirty [Junior Boy’s Own 1992]
- Funtopia – Do You Wanna Know (Gut Drum Mix) [PrimaVera 1994]
„Das goldene Zeitalter“
Anders als bei Trance sehe ich das „goldene Zeitalter“ bei Progressive House nicht in den Neunzigern, sondern irgendwo zwischen 2002 und 2008. Die Neunziger waren eher für die britische Variante golden. Mit dem neuen Jahrtausend wurde dann alles globaler und Produzenten aus vielen Teilen der Welt zeigten, dass noch viel Potenzial drin ist. So wurde der Sound triebender, hypnotischer und druckvoller. Und wenn man ehrlich ist, hat Progressive House zu der Zeit eigentlich die Entwicklung vollzogen, die Trance ab den späten Neunzigern hätte machen sollen. Wieder aufmerksam auf das Genre wurde ich durch die Mixserie „Deep Transmissions“ von d-phrag (bulgarischer DJ und Producer). Dieser begann 2003 bei Frisky Radio seine Karriere. Und die Shows „Deep Transmissions“ und „Immersed“ hatten es in sich: tief, treibend, dramaturgisch und mit dezent eingesetzten Tribal-Elementen perfekt verziert. An weiteren DJ- und Produzenten-Talenten jener Zeit fallen mir Fady Ferraye (Libanon), Snake Sedrick (Ungarn), Paul Kwitek (Kanada), Cristian Paduraru (Rumänien) und Luke Porter (Australien) ein.
Zehn späte Klassiker, die man gehört haben sollte
- Snake Sedrick – Across The Sahara [Sauna Recs. 2003]
- Tilt – Seduction Of Orpheus (Tilt’s Mythology Mix) [Hooj Choons 2000]
- Mannel – A Tündérek Hagja [No Smoking Recs. 2006]
- Omikron – 54 Hours [Pure Substance Digital 2008]
- Âme – Rej [Sonar Kollektiv 2005]
- Medway – Release (Andy Moor Remix) [Hooj Choons 2001]
- Digital Project – Changing My Style (Dub Mix) [Presslab Limited 2006]
- Monodrive – Deeper Sight (Isotope Remix) [Existence 2007]
- Bipath – Paranoize (Flip Path Mix) [Saw 2005]
- Carlos Fauvrelle – Riliz The Pressure (Jaimy Remix) [Meriduá 2006]
Weichspülung und Abkehr vom Genre
Ab 2008 trat dann das ein, was schon Trance in den Neunzigern kaputt gemacht hat. Es gab immer seltener Mixsets, die ich mehrmals oder gar zu Ende hörte. Einmal störte mich der Singsang, der offensichtlich zum zentralen Element wurde, und weiterhin die simplen und langweiligen Melodien, die sich vom Pop ungefragt eingeschlichen hatten. Progressive House war weicher, kommerzieller und poppiger geworden. Fast schon Fahrstuhlmusik. Passte bestens zu einem Glas Wein in der Lounge oder zu einem Geschäftsessen mit Schlipsträgern. War nicht mehr das, was mich einst so angesprochen hatte.
Progressive House ist heutzutage auch kein Hype mehr, eher ein Nischenprodukt. Man muss schon genauer suchen, um aktuelle Sets zu finden – oder noch einen Club, wo Progressive House aufgelegt wird. Derzeit dominiert Tech-House weit vor Techno und Deep-House die Clubs und Releases. Seb Wheeler vergleicht auf Mixmag Tech-House mit Japanischem Staudenknöterich – eine Pflanze, die sich rasch ausbreitet und man nur schwerlich wieder los wird. Offensichtlich sind nicht alle mit der aktuellen Entwicklung zufrieden, die den Eindruck erweckt, als hätte man die Wahl zwischen glatter und leerer Musik oder weichgespültem Pop-Krimskrams.
It’s not that tech-house is inherently bad or evil; millions of people genuinely do like it. It’s just that the march towards homogeneity, towards standardisation with once-experimental producers starting to make slick, vacuous music. Dance music should thrive on difference – anything else is worse than evil – it’s boring.
Seb Wheeler
In the mix: Retrogressive Sessions 2019.18
Passend zum Thema der Retromix (2019) mit vielen frühen und (meist) sehr britischen Techno-, Hardcore und Progressive-House-Klassikern. Zurück zu einer Zeit, wo noch vieles experimentell und durchaus kreativ und euphorisierend war.
- Subject 13 – The Promise (Freestyle Mix) [Vinyl Solution 1991]
- Outlander – The Vamp [R&S 1991]
- Carlos Peron – Power Trancefer (A1) [!Hype 1992]
- Virtualmismo – Cosmonautica (Moontrip Mix) [PRG 1993]
- Tin Tin Out – The Feeling [Hooj Choons 1994]
- Gat Decor – Passion (Naked Mix) [Effective 1992]
- Jagga – Na-Na-Na (Acido Latino Mix) [Up 1993]
- Liberation – Liberation (Liberty) [Blanco Y Negro 1992]
- Westbam – Found A Lover [Low Spirit 1991]
- SL2 – DJ’s Take Control [XL 1991]
- Indo Tribe – Owl (I Can See You Mix) [Jumpin‘ & Pumpin‘ 1991]
- The Chameleon Project – Feel [Guerilla 1992]
- Pure Tribal – Feel Alright [Now! 1993]
- Urban Shakedown feat. Micky Finn – Bass Shake [Urban Shakedown 1992]
- Laurent Garnier – Luv‘ Chicago (Dance Mutha) [Fnac 1992]
- Funtopia – Do You Wanna Know (Gut Drum Mix) [PrimaVera 1994]
- Citrus Club – Work It Out (Wurlitzer Mix) [3 Beat 1991]
- Definitive Two – I’m Stronger Now (Acorn Arts Full On) [Deconstruction 1992]
- Leftfield – Song of Life (Extended Mix) [Hard Hands 1992]
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